Do 25. Juni 2020, FernUniversität Hagen und online
Fachtagung des Gleichstellungsteams der FernUniversität Hagen,
konzipiert und organisiert in Zusammenarbeit mit
Prof*in Dr*in Katharina Walgenbach, Lehrgebiet Bildung und Differenz
Dr*in Antke Engel, Gastprofessur Gender und Queer Studies
Beitragende:
Susanne Baer, Adrian de Silva, Antke Engel, RyLee Hühne, Kirsten Pinkvoss, Noah Rieser, Pasquale Virginie Rotter
Eine Video-Aufzeichung der Tagungsbeiträge und ein Padlet sind hier verlinkt:
Anliegen der Tagung ist es, die aus den Reformen des Personenstandsgesetzes erwachsenen Herausforderungen für die Gleichstellungspolitik zu diskutieren. Was bedeutet die Einführung von ‚divers’ als dritter Option des Geschlechtseintrags (PStG §45b), wenn Gleichstellung gesetzlich explizit als ‚Gleichstellung von Männern und Frauen’ formuliert ist? Wie kann Gleichstellung geschlechtliche Vielfalt und Selbstbestimmung unterstützen?
Angesichts der Tatsache, dass die Unterscheidung von Männern und Frauen immer noch strukturelle, statistisch signifikante Ungleichheit produziert (zum Beispiel, was Berufschancen, Vergütung oder die Verantwortung für Care- und Reproduktionsarbeit betrifft) liegt hier eine Herausforderung. Politische Maßnahmen, die diesbezüglich für Chancengleichheit und den Abbau von Privilegien und Diskriminierungen sorgen, sind somit nach wie vor notwendig.
Auftakt der Tagung bildet ein Vortrag von Prof*in Susanne Baer (Richterin am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe) zum Thema:
Die dritte Option – Selbstbestimmung und Gleichberechtigung unter dem Grundgesetz.
Prof*in Dr*in Antke Antek Engel zur Einführung in die Tagung:
Auch von meiner Seite “Herzlich Willkommen” an alle Teilnehmenden dieser Tagung – vor Ort und im Netz.
Vieles ist in Bewegung gekommen seit Einführung des § 45 b PStG.
Ich könnte jetzt etwas sagen
- zur Kritik an diesem Paragraphen (Stichworte: fortdauernde Pathologisierung; Ausschluss von Trans* und nicht-binären Personen);
- zu den weiteren rechtlichen Entwicklungen;
- zur veränderten Medienaufmerksamkeit für trans/inter*/nicht-binäre Belange;
- zu den Anforderungen an Arbeitgebende und Dienstleistende, mehr als zwei Geschlechtsoptionen zu berücksichtigen
- oder zur Bundestagsdebatte am vergangenen Freitag, bei der endlich die Abschaffung des TSG und das Verbot geschlechtsverändernder Maßnahmen an Kindern auf der Agenda stand.
All dies wird sicher im Laufe des Tages Thema sein.
Ich möchte stattdessen meine rare Zeit nutzen, um etwas zu den zwei Elementen unseres Tagungstitels zu sagen: „Personenstand: divers“ und „Gleichstellung weiterdenken“
Was hat es mit dem Begriff „divers“ auf sich?
Meiner Ansicht nach, handelt es sich um ein Missverständnis, wenn „divers“ als „3. Geschlecht“ gedacht wird (als gäbe es ein 1. und 2. Geschlecht). Es geht um eine 3. Option des Geschlechtseintrags. „Divers“ ist keine Ergänzung, sondern eine Alternative zu „männlich“ und „weiblich“ – ebenso wie die 4. Option, die Streichung des Eintrags.
Kann „divers“ trotzdem eine Identität benennen? Eine „positive“ Alternative neben weiblich und männlich? Liegt in der Begriffswahl ein Problem, weil sich quasi niemand mit diesem Begriff identifiziert und er auch kaum aktivistische Geschichte hat?
Oder liegt genau darin das Potenzial: nämlich dass ‚divers’ einerseits als Oberbegriff für TIN* (also: trans*, inter*, nicht-binär*) dienen kann und andererseits eine VerUneindeutigung produziert, die auf die Kategorien weiblich und männlich in positiver Weise ansteckend wirkt?
Denn ebenso wenig wie klar ist, ob es eine cis*, eine nicht-binäre, eine trans*, oder eine inter*-Person ist, die sich als divers eintragen oder ihren Geschlechtseintrag streichen lässt, ist klar (oder war jemals klar), ob der Begriff weiblich oder männlich von einer trans*, einer inter* oder einer cis*-Person verwendet wird.
Die Uneindeutigkeit verweist im Moment auf Grauzonen des Gesetzes.
Aber das Prinzip – und die Praxis – spricht für sich: Geschlechtsempfinden lässt sich nicht fremd-definieren.
Gerade weil es ein deutungsoffener Begriff ist, ist „divers“ geeignet, die binäre Geschlechterordnung in weitaus radikalerer Weise zu durchkreuzen, als jede identitär oder minderheitenpolitisch gedachte 3. (4./5.) Option dies je könnte.
Hier schließt der zweite Teil unseres Tagungstitels an. Wir möchten vorschlagen und gemeinsam diskutieren, dass und wie „divers“ geeignet ist, Gleichstellung auch in intersektionaler Weise weiter zu denken. Als „Gleichstellung aller Geschlechter“ ebenso wie Gleichstellung, die diverse Differenzen in den Blick nimmt, um der Komplexität der Lebenslagen und Diskriminierungsformen gerecht zu werden.
Was also können antirassistische, BPoC und migrantisierte Perspektiven auf Geschlecht zu einer zeitgemäßen Gleichstellungspolitik beitragen? Welche Bedeutung kommt Inklusionskonzepten aus dem Kontext von Enthinderungspolitiken zu? Wie verschieben die Klassismusdiskussionen der vergangenen Jahre das Verständnis von Gleichstellung?
Mit diesen Fragen möchte ich schließen. Ich hoffe, dass diese kurze Tagung die Form eines langen, engagierten Gesprächs annimmt. Nicht einfache Antworten sind gefragt, sondern Lust, weiter zu denken und neue Praxen zu erproben.
Die Fachtagung „Personenstand: divers – Gleichstellung weiterdenken“ knüpft thematisch an eine Veranstaltung von Gender/Queer e.V. an, die am 15. Januar 2020 in Berlin stattfand:
Gleichstellung – nicht-binär und intersektional?! [:]